Im Fokus der 24. Bieler Fototage stehen gesellschaftliche Brüche und Herausforderungen: Unter dem Titel «Cracks» sind vom 7. bis 30. Mai 23 Ausstellungen zu sehen. An elf Standorten sollen sie dem Publikum Räume bieten, um über die Gesellschaft nachzudenken.
«Als im Jahr 2020 die Konzipierung zur 24. Ausgabe der Bieler Fototage voranschritt, hätten wir nie erwartet, so rasch von der erschreckenden Aktualität des vorgesehenen Themas eingeholt zu werden», schreibt Sarah Girard, Direktorin der Bieler Fototage in der Vorschau zu den Bieler Fototagen.
Das für 2020 geplante Programm musste letztes Jahr aufgrund der Pandemie verschoben werden. Nun, ein Jahr später, wird es dem Publikum gezeigt. «Es war ein schwieriges Jahr», sagt Girard gegenüber 42mm.ch. Die Macherinnen der Bieler Fototage freuen sich deshalb, dass alle ursprünglich geplanten Künstler dabei sind und es auch mit den Lokalitäten und Unterstützerinnen klappte.
Aktuelle Themen
«Das Thema ‘Cracks’, die gesellschaftlichen Brüche, war schon vor der Pandemie sehr aktuell, jetzt durch Covid-19, ist es noch sichtbarer geworden», sagt Sarah Girard. Einige Künstlerinnen hätten ihre Projekte weiterentwickelt. «Wir waren mit den Ausstellenden in Kontakt, so dass die gezeigten Projekte auch dieses Jahr Sinn machen», so Girard weiter.
Identitätskrisen, politische Instabilitäten, ökologischer Wandel, wirtschaftliche Restrukturierungen: das sind die Themen, mit denen sich die gezeigten Werke auseinandersetzen. Der Rundgang durch die Stadt Biel umfasst 23 Ausstellungen an elf Orten.
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Bilder nur aus Daten
Gefragt nach einer Entdeckung an diesem Festival, nennt Direktorin Sarah Girard die Zürcher Künstlerin Nora Papp. Sie nutzt Filter von Instagram, um die Strukturen von digitalen Bildern zu dekonstruieren und «ästhetische Daten» zu sammeln.
Diese Daten erfasst Papp in einer Excel-Tabelle. Anschliessend werden sie vektorisiert. Daraus entstehen visuelle Kompositionen, die das menschliche Auge mit Objekten assoziiert. «Nora Rapp macht Bilder ohne Kamera, nur aus Daten. Das ist ein spannender Bruch in der Fotografie», kommentiert Sarah Girard.
Migration, Blachen und der Stadtrand
Zu sehen sind zehn weitere Arbeiten von Schweizer Fotografinnen und Künstlern. Aline d’Auria richtet in «We are all going home» ihren Blick auf die aus Osteuropa immigrierten Bewohner der Tessiner Grenzstadt Chiasso. Ihre Installation umfasst Fotos, Videos und Wiegenlieder.
Catherine Leutenegger fotografierte in der indischen Grossstadt Chennai das zweite Leben von Blachen, Plakaten und Wandbildern. Diese werden an Stränden wiederverwendet, um die Arbeitsgeräte der Fischer oder die Habe kleiner Händlerinnen abzudecken. So werden sie zu dreidimensionalen Skulpturen, auf denen die Gesichter nach und nach Risse erhalten.
Emmanuelle Bayart dokumentiert in «Dans les plis de la ville» das «Unbewohnbare» am Pariser Stadtrand. «Die sorgfältig komponierten Bilder schwanken zwischen Not und Zauber, sie stellen Fragen zu unseren demokratischen Werten und dem Zusammenleben in der heutigen Gesellschaft», heisst es in der Vorschau.
Konsum, Geschlechterrollen, Moscheen
«Hang» von Eva Maria Gisler wirkt wie ein abstraktes Gemälde, zeigt aber einen abfallverschmutzten Abhang. Die Künstlerin konfrontiert mit einer visuellen Realität, welche auf den entfesselten Konsum und dessen Folgen hinweist.
Karla Hiraldo Voleau ist während einer Woche in die Haut ihres «männlichen Alter Ego» geschlüpft, um einerseits die Veränderung der Haltung ihr gegenüber untersuchen zu können und andererseits ihre eigene Verhaltensveränderung zu beobachten.
Für seine Fotoserie New Dutch Views besuchte Marwan Bassiouni über 70 Moscheen in Holland. Er fotografierte die Innenräume mit ihren Fenstern zur Aussenwelt.
Bildinventare, Familienfotos und die Jugend im Berner Jura
Guadalupe Ruiz realisiert Arbeiten in Form von Bildinventaren, die sie zu Enzyklopädien zusammenfasst. Für die Installation im Kunstraum Juraplatz hat sie das Bildinventar, das sie in der Wohnung ihrer Eltern angefangen hat, weiterentwickelt. Gemäss Vorschau ein Versuch, «das zu reproduzieren und zurückzuerlangen, was mit der Zeit verloren gehen könnte.»
Giorgia Piffaretti und Sophie Wright sammeln Bilder, Notizen oder persönliches Archivmaterial und stellen damit narrative Konstellationen zusammen. Ausgehend von einem Familienfoto, das auf dem Gipfel des Mont Blanc aufgenommen wurde, löst die Arbeit «In Vetta» eine Lawine von kollektiven Assoziationen aus.
Pierre-Kastriot Jashari, der Preisträger der ersten Ausgabe der Enquête photographique Berner Jura lässt in den Alltag der multikulturellen Jugend im Berner Jura eintauchen.
In «Tout ce qui se voit sous le soleil (Asouike 1)» entzieht Thomas Maisonnasse dem, was der Fotoapparat aufgenommen hat, das Licht, «so dass nur die Teile im Schatten übrigbleiben», so die Vorschau.
Installation «Hanging Heavy On My Eyes», © Ang Song Nian Aus der Serie «cry of an echo», © Małgorzata Stankiewicz
Verschmutzte Umwelt
Weitere zehn Ausstellungen werden von internationalen Künstlerinnen bespielt. «Auch wenn die Ausstellenden Aufgrund der Pandemie nicht persönlich vor Ort sein können, sind wir im Dialog mit ihnen», sagt Direktorin Sarah Girard. Das Festival biete ihnen eine schöne Sichtbarkeit.
Ang Song Nian (Singapur) hat während eines Jahres den Verschmutzungsgrad von Singapur dokumentiert. Der Künstler hat den nationalen Umweltindex in Grauwerte umgerechnet und auf lichtempfindliches Fotopapier übertragen.
In der Fotoserie «Sharp Memories» von Constanza Piaggio (Argentinien) dienen Landschaft, Natur und Geschichte als Inspirationsquellen. Die Künstlerin beschädigt Teile der analogen Bilder und hinterfragt so die Beeinträchtigung der Natur durch den Menschen.
«Cry of an echo» von Małgorzata Stankiewicz (Polen) versteht sich als persönlicher Protest der Künstlerin gegen die Abholzung des Białowieża-Urwalds. Ihr Projekt umfasst 46 Bilder, die absichtlich durch Maskierung, chemische Verunreinigung, ungleichmässige Entwicklung, Bleichen und Retuschieren verunstaltet wurden.
Soziale Zustände
Anthony Ayodele Obayomi (Nigeria) ist der erste Preisträger des Taurus Prize for Visual Arts. Obayomi interessiert sich dafür, wie religiöse Institutionen und Geldspielorganisatoren die Denkweise von insbesondere mittellosen Menschen formen.
Sébastien Cuvelier (Belgien) erhielt 2007 das Tagebuch seines verstorbenen Onkels, der in den 70er Jahren vor der Absetzung des Schahs eine Reise in den Iran unternommen hatte. Davon angeregt, reiste der Künstler mehrmals in den Iran, um sich ein eigenes Bild über das Land zu machen.
«Banana Republic» ist eine Reaktion von Shinji Nagabe (Brasilien) auf einen hoffnungslosen Zustand und eine politische und soziale Desillusionierung, in der Gewalt und religiöser Eifer herrschen und die geprägt ist von der Einschränkung individueller Freiheiten.
Digitale Welt
Eline Benjaminsen (Norwegen) dokumentiert die Landschaft eines immateriellen Marktes. Die im Video festgehaltenen Orte werden nicht direkt mit der Finanzwelt in Verbindung gebracht und doch würden genau dort die grössten Gewinne erzielt.
Aurore Valade (Frankreich) hat eine Klasse des französischen Gymnasiums Biel eingeladen, die in den sozialen Netzwerken generierte Bilderflut zu dekonstruieren. Mit den entstandenen Symbolen wurden die Schülerinnen anschliessend fotografiert.
Die eigene Identität
Gao Shan (China) wurde acht Tage nach seiner Geburt adoptiert. Im Sinne einer Identitätssuche hat er über mehrere Jahre seine Adoptivmutter fotografiert. Das Video von Mary Maggic (USA) zeigt eine fiktionale TV-Show, in der die beiden Animatorinnen und Transfrauen Maria und Maria den Zuschauer vorführen, wie man in der eigenen Küche Hormone brauen kann.
Ausgestellt sind weiter Arbeiten der Schule für Gestaltung Bern und Biel sowie die Bilder des SNF-Wettbewerbes für wissenschaftliche Bilder. Begleitet wird das Festival von einem Rahmenprogramm mit Begegnungen, Performances, Radio-Sendungen und Workshops. Die genaue Durchführung mit den geltenden Schutzmassnahmen publizieren die Bieler Fototage auf ihrer Website.
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