Seit mehr als einem Jahr sitzen wir in der Pandemie. Und seit dem ersten Tag begleiten uns ihre Bilder: einerseits die Fotos in den Medien, andererseits die Projekte der Fotografierenden zu Hause. Gedanken zu den Fotografien aus einem Jahr Corona.
Ein Jahr hat viele Bilder. Ich erinnere mich an die ersten Fotos von Leuten in Schutzanzügen aus Italien. Dann die geschlossenen Restaurants im Tessin. Bald die leeren Bahnhöfe, die Schlangen bei den Detailhändlern, die Absperrungen, Desinfektionsmittel, vereinzelte Masken.
Seit letztem Frühling begleitet uns die Pandemie. Auch fotografisch. Zum einen in den Bildern, die wir täglich über die Medien vermittelt bekommen. Zum Andern in den Fotoprojekten von Fotoschaffenden und eigenen fotografischen Umsetzungen.
Ein prägendes Thema
Schauen wir uns zunächst die Medien an. Sie bebildern das Geschehen, die Entwicklung der Fallzahlen, die Massnahmen und Beschlüsse. Aktuell zum Beispiel mit Fotos wiedereröffneter Restaurant-Terrassen, Bildern von Impf-Utensilien oder fordernden Politikern.
Wie prägend das Thema ist, zeigt der Blick auf die Kategoriensieger*innen von Swiss Press Photo: Drei der sechs mit einem 1. Preis ausgezeichneten Arbeiten stehen im Zusammenhang mit Corona.
Pablo Gianinazzi fotografierte in Locarno im ersten Covid-Spital der Schweiz. Sarah Carp dokumentierte den Lockdown in den eigenen vier Wänden. Alexandra Wey lichtete Pappfiguren als Fans im leergeräumten Fussballstadion ab.
Kaum Fotos aus den Spitälern
Ein Grossteil der Fotos zeigt nicht die direkten Auswirkungen einer Covid-19-Erkrankung. Vielmehr bilden die Fotos die Massnahmen gegen die Ausbreitung des Virus ab. Von der Front, aus den Spitälern und Altersheimen existieren nur wenige Bilder.
Das ist verständlich. Erstens ist die Hauptaufgabe der Spitäler Leben zu retten. Sie können nur einer beschränkten Anzahl an Pressefotografinnen Zugang gewähren. Zweitens gilt es, die Privatsphäre der Patienten zu wahren. Und drittens ist es auch eine Pflicht der Medien, verantwortungsvoll mit dem Bildmaterial umzugehen. Fotos aus purem Voyeurismus zu zeigen verstösst gegen die ethischen Grundsätze.
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Möglichst viele Aspekte zeigen
«Die Pandemie ist (bis heute) für viele unwirklich, sie bleibt abstrakt, solange sie sich nicht mit der eigenen Wirklichkeit in Verbindung bringen lässt», stellt Jann Jenatsch, stellvertretender Geschäftsführer der Presseagentur Keystone-SDA in einem Interview mit dem Forschungsblog «Learning from Corona» fest. Keystone habe versucht, möglichst viele Aspekte der Pandemie aufzugreifen und den veränderten Alltag in all seinen Facetten sichtbar zu machen.
Gemäss Jenatsch haben zwischen dem 1. Februar 2020 und dem 1. Februar 2021 die Fotografinnen und Fotografen von Keystone-SDA knapp 55’000 Fotos im Zusammenhang mit dem Coronavirus gemacht. Über 18’000 verschiedene Fotos seien über die Bilddatenbank von Keystone-SDA bezogen worden.
«Der Pressefotograf darf kein Brandstifter sein»
Auf die Frage, welchen Selektionskriterien die Pressebilder von Keystone-SDA unterliegen sagt Jann Jenatsch unter anderem: «Der Pressefotograf darf kein Brandstifter sein, seine Aufgabe ist, das Vorgefundene so zu dokumentieren und die Realität so abzubilden, dass bei einer späteren Betrachtung verstanden werden kann, was gewesen ist, unabhängig von den Umständen.»
Auf die Tatsache, dass es kaum Bilder von dieser Front der Pandemie gibt, ist kürzlich auch das Online-Magazin «Medienwoche» eingegangen. Es zitiert einen Artikel der «Zeit online». Dort stellte der Journalist Lenz Jacobsen vor rund einem Jahr fest: «Dass es so wenige Fotos vom Leid der Corona-Opfer gibt, trägt dazu bei, dass die Gefahr der Pandemie, ihre körperliche Gewalt, unterschätzt wird.»
Herausforderung für die Medien
Die Medienwoche wiederum schliesst: «Für Medien, insbesondere die Service-public-Medien, gerät die Bebilderung der Pandemie zur doppelten Herausforderung. Aus den wenigen Aufnahmen müssen sie diejenigen selektieren, die die unleugbare Dramatik und Dynamik des Infektionsgeschehens realistisch abbilden. Auf der anderen Seite müssen die Medien Sorge tragen, dass sie mit ihrer Information keine Kampagne betreiben, die gerade bei einem skeptischen Publikum als belehrend empfunden werden könnte.»
Am Ende geht es – wie eigentlich immer – um die Fragen: Welche Bilder gibt es? Welche davon wählen die Medien aus? Und was bewirken sie bei uns Mediennutzern?
Verlassene Szenerien
Verlassen wir nun die journalistischen Bilder und blicken auf jene Projekte die Fotograf*innen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie lanciert haben. Bei diesen Arbeiten geht es um die Dokumentation und das eigene Verarbeiten der Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus.
Jacqueline Lipp (bei 42mm.ch im Bild der Woche 14/2021) dokumentierte vor einem Jahr den Lockdown in Luzern. Andreas Becker recherchierte in der Zentralschweiz, wo und wann welche Veranstaltungen stattgefunden hätten, fuhr hin und hielt die stille und verlassene Szenerie fest. Um «Räume ohne Anlass» geht es auch im Foto-Projekt «abgesagt» von Mario Baronchelli.
Fotograf*innen im Lockdown
Lisa und Remo Ubezio porträtierten zwischen dem 1. April und 10. Mai 2020 insgesamt 73 Familien, Wohngemeinschaften, Paare oder Einzelpersonen in ihrem begrenzten Wohnraum. Stéphane Mingot befasste sich mit den Gesichtsmasken. «Gelingt es der Intuition, das wahre Gesicht eines Menschen unter der Maske zu erahnen?» fragt er im Fotoprojekt Incognito, für das er 50 Personen mit und ohne Maske porträtiert hat.
Zahlreiche weitere Fotoschaffende haben vor einem Jahr die Zeit im Lockdown genutzt und ein fotografisches Tagebuch geführt. Zu Hause, auf Spaziergängen, in der Natur oder der eigenen Stadt: oft stand der eigene Alltag im Vordergrund. Bilder solcher Projekte haben unter anderem das Online-Magazin Photoagora, die Photo Münsingen oder das Projekt «PhotoCorona» der Photo Schweiz gesammelt.
Einige dieser Fotos sind humoristisch. Viele nehmen die Surrealität dieser Zeit auf, verarbeiten Ängste, Ungewissheit und Einsamkeit. Aber sie lassen auch die Ruhe, die Natur und die Freuden an den kleinen Dingen des Lebens spüren.
Unser aller Alltag
Die Bilder der Pandemie, sie sind in erster Linie also Bilder der Massnahmen gegen die Pandemie und deren Auswirkungen. Das stellt die Medien vor Herausforderungen und birgt die Gefahr, dass wir die Situation falsch beurteilen.
Dass die Massnahmen im Alltag so gut sichtbar sind, bietet den Fotografierenden indes die Möglichkeiten, sich mit dem Thema zu befassen und die ganz eigenen Wahrnehmungen fotografisch zu verarbeiten. Das führt zu einer kollektiven Bildwelt, die unseren derzeitigen Alltag wohl sehr fassbar abbildet. Bilder, die uns daher nahe sind und uns in einigen Jahren an die Pandemie erinnern werden.
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