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«Wenn es hart auf hart kommt, gehe ich Stapler fahren»

Anlässe abgesagt, Tourneen verschoben, keine neuen Buchungen: Konzert- und Eventfotograf*innen haben seit dem Ausbruch der Pandemie kaum noch Aufträge. Manuel Lopez und Tatjana Rüegsegger erzählen, wie sie mit dieser herausfordernden Situation umgehen, sprechen über die Unterstützung für Selbständige und nennen ihre Zukunftsaussichten.

Stichtag für die Eventbranche war der 28. Februar 2020: Nach seiner ausserordentlichen Sitzung verkündete der Bundesrat das Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen. «Es war ein sehr komischer und surrealer Freitag», erinnert sich Manuel Lopez. Der Berner Fotograf verdiente bis dahin einen Grossteil seines Einkommens mit der Dokumentation eben dieser Anlässe. Erst bei Veranstaltungen ab rund 1000 Personen ist in der Regel ein Budget für eine Fotografin vorhanden.

Manuel Lopez, Eventfotograf aus Bern. (Foto: liveit.ch)

Lopez deckt zum Beispiel das Gurtenfestival ab, ist am Skiweltcup oder am Thuner Stadtfest. «Überall dort, wo Firmen, Institutionen oder auch Musikerinnen Bilder brauchen», beschreibt er sein Einsatzgebiet. Die Event-Fotografie ist seine grosse Leidenschaft. «Die aufbauende Charakteristik eines Events fasziniert mich jedes Mal.»

Am 28. Februar verlor Manuel Lopez einen grossen Teil seiner Aufträge. 16 Tage später ging die Schweiz in den Lockdown.

Die Sicht auf die Situation ändern

Bei Tatjana Rüegsegger hätte 2020 ein volles Jahr werden sollen. Die Zürcher Fotografin begleitet Bands auf Tourneen, fotografiert Konzerte und dokumentiert das Leben hinter den Bühnen. Neben der Fotografie lebt sie von einer 40-Prozent-Anstellung als Produktionsleiterin im Zürcher Kulturlokal Papiersaal.

Auch bei Rüegsegger war spätestens mit dem Lockdown vorerst Schluss. «Ich freute mich über etwas Ferien. Aber natürlich war ich traurig, weil gerade eine Tour angefangen hätte, auf die ich mich gefreut habe», sagt sie. Es sei ihr gelungen, die Sicht auf die Situation zu ändern. Statt deprimiert im Zimmer zu sitzen habe sie sich entschieden, einfach einen Tag nach dem andern anzugehen. «Ich glaube, mir ist es im Vergleich zu anderen recht gut gegangen.»

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Eine nicht-systemrelevante Tätigkeit

Tatjana Rüegsegger, Musik-Fotografin aus Zürich. (Foto: Sarah Kahn)

Sinnkrise? «Das ist in Nicht-Corona-Zeiten nicht besser. Vor allem als Musikfotografin. Die Bands könnten immer auch einfach einen Kollegen mitnehmen, der ein bisschen knipst», stellt Tatjana Rüegsegger fest. Manuel Lopez hingegen sagt: «Beim ersten Lockdown habe ich mir schon sehr viele Gedanken gemacht, wie systemirrelevant ich und meine Tätigkeit eigentlich sind.»

Nach den ersten Wochen, in denen es sowieso galt, zu Hause zu bleiben, begann Manuel Lopez andere Aufträge zu suchen. Neben der Eventfotografie hatte er immer schon kleine Betriebe und Reportagen fotografiert. «Ich habe allerhand andere Sachen angefangen», erzählt er. Das sei jedoch ein sehr ermüdender Prozess gewesen. «Weil es immer ein Suchen ist. Zwar cool, aber halt nicht das, was ich eigentlich mache.»

95 Prozent weniger fotografiert

Auch als der Bund seine Massnahmen im Sommer lockerte, gab es nur kleine Aufträge aus dem Event-Bereich. «Die waren eigentlich alle defizitär», so Manuel Lopez. Die grossen Anlässe blieben aus. Ebenso die Touren durch Europa.

Tatjana Rüegsegger schätzt, dass sie rund 95 Prozent weniger fotografierte als geplant. «Ich habe den Job mega vermisst, aber dafür habe ich zum Beispiel das Community-Musical der Queer-Community in Zürich dokumentiert. Etwas, das ich sonst nicht gemacht hätte, weil es zeitlich nicht gegangen wäre. Und das war eine mega schöne Erfahrung. Es ist schade, und ich habe viel verpasst, was ich eigentlich gemacht hätte. Aber es ist nicht so schlimm, wie es eigentlich hätte sein können.»

Finanzielle Unterstützung

Nicht so schlimm auch deshalb, weil sich die zwei Befragten in der Schweiz relativ sicher und einigermassen unterstütz fühlten. Bei ihrem Job im Papiersaal erhält Tatjana Rüegsegger Kurzarbeit. Da sie für die Fotografie erst seit letztem Jahr als Selbständige angemeldet ist, hat sie hier noch keine Unterstützung beantragt.

«Sobald die Zahlen steigen und ein Lockdown droht, sagen alle Kunden alles ab.»

Manuel Lopez

«Finanziell war es ein sehr spannendes Jahr», fasst Manuel Lopez zusammen. Er ist seit sechs Jahren selbständig. Schwankungen beim Einkommen sei er sich gewohnt. 2020 empfand er aber noch einmal als turbulenter und anstrengender. «Sobald die Zahlen steigen und ein Lockdown droht, sagen alle Kunden alles ab.»

Zur Corona-Hilfe sagt er: «Ich habe glücklicherweise die letzten fünf Jahre immer sauber die AHV eingezahlt und erhalte deshalb den für mich zustehenden Betrag Erwerbsersatz.»

Verschiedene Anlaufstellen, unscharfe Grenzen

Schwierig seien zum einen die verschiedenen Anlaufstellen. Manuel Lopez: «Ich habe eine Buchhalterin, die auf Menschen im Kulturbereich spezialisiert ist. Trotzdem haben wir regelmässig kleine Nervenzusammenbrüche.» Etwa, wenn ein Merkblatt geändert hat. Oder um herauszufinden, wer nun überhaupt zuständig ist.

Die Problematik sei hier, dass Lopez Sachen im Kulturbereich fotografiert, aber auch kommerzielle Dienstleistungsfotografie betreibt. Während er für Ausfälle im Kulturbereich Entschädigungen beantragen kann, gibt es diese Förderung im Dienstleistungsbereich nicht. Die Grenze sei jedoch nicht genau definiert. «Es ist eine Person in einem Büro in Bern, die entscheidet ob etwas kulturell genug ist», so Lopez. Für diesen Entscheid gebe es keine Rekurs-Möglichkeit.

Keine Aufträge, keine Belege

Hinzu kommt, dass die Ausfälle belegt werden müssen. Da jedoch die Veranstalter aufgrund der unsicheren Lage ab Herbst keine Fotografinnen mehr gebucht haben, kann Lopez für den zweiten Lockdown auch keine Absagen mehr vorweisen. Die Jobs wurden gar nicht erst vergeben.

Ein Problem der Ersatzzahlungen sei schliesslich, dass sie auf den Zahlen der AHV basieren. Die weiteren Auslagen sind da nicht eingerechnet. Daher hat der Fotograf letztes Jahr sein Atelier gekündet, das Auto verkauft und die Kosten so stark reduziert wie möglich.

Stapler-Ausbildung und Online-Marketing-Kurs

Das erste Corona-Jahr hat bei beiden Fotoschaffenden – zwangsläufig – auch neue Perspektiven geöffnet. Manuel Lopez hat unter anderem eine Ausbildung zum Industriekletterer gemacht und gelernt Stapler zu fahren. «Wenn es wirklich hart auf hart kommt, habe ich nun einen Plan B und gehe Stapler fahren.»

«2020 hat mich gezwungen nicht zu viel vorauszuplanen.»

Tatjana Rüegsegger

Tatjana Rüegsegger hat bei Studio-Shoots mit einer Dragqueen ihr Portfolio erweitert und einen Online-Marketing Kurs absolviert. Und sie sagt: «2020 hat mich gezwungen nicht zu viel vorauszuplanen.»

Grossanlässe ab 2024

In die Zukunft blicken die beiden mit gemischten Gefühlen. «Ich glaube nicht, dass es jemals wieder wird wie vorher», sagt Manuel Lopez. Für die Eventfotografie an grossen Anlässen rechnet er mit einem Zeithorizont von 2024. Seine Einschätzung begründet er mit der momentanen Impfgeschwindigkeit und den Mutationen. Aber auch damit, dass internationale Touren eine lange Vorlaufzeit haben. Und dass einige Veranstalter wohl nicht mehr lange Schnauf haben.

«Ich denke, die Spezialisierung in der Eventfotografie lasse ich für den Moment hinter mir», sagt Lopez, der sich nun auf andere Bereiche konzentrieren will.

Black Honey, aus dem Projekt „Brexit Bedrooms“, © Tatjana Rüegsegger.

Ein Projekt über britische Bands

Tatjana Rüegsegger hofft vorerst auf den Mai. Wenn alles klappt, wird sie ein Atelier Residency in England antreten. Dort arbeitet sie an einem Projekt, bei dem sie britische Bands in ihren Schlafzimmern porträtiert und mit ihnen über Ängste und Gedanken zum Brexit spricht.

Das Projekt hat sie noch vor der Pandemie gestartet. Es hätte letztes Jahr veröffentlicht werden sollen. «Durch Corona ist viel wahrgeworden, wovor die Bands Angst hatten. Vor allem, dass sie nicht Touren konnten.»

Weiter hofft sie, dass sich ab Herbst neue Aufträge ergeben – auch wenn es vielleicht noch keine Konzerte gibt. Schliesslich seien die Musiker produktiv gewesen, stellt Rüegsegger fest. «Aber eben: Ein Tag nach dem andern.»

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