Ernst A. Heiniger, Selbstporträt, um 1950; Weissweinstern, 1939; Bahnhofplatz, Zürich, 1933, © Fotostiftung Schweiz
Im Fokus

Gespür für moderne Ästhetik

Die Fotostiftung Schweiz zeigt die erste umfassende Retrospektive von Ernst A. Heiniger (1909–1993). Der Fotograf gehörte in den 1930er-Jahren zur Avantgarde der Neuen Fotografie in der Schweiz und leistete später immer wieder Pionier-Arbeit. Was hat es mit dieser «Neuen Fotografie» auf sich?

Kunsthistorikerinnen dürfte alles klar sein. Ebenso ausgebildeten Fotografen, die eine Vorstellung der «Neuen Fotografie» haben müssten. Mir, dem Autodidakten, hingegen blieb der Begriff trotz ersten Begegnungen bisher ein Mysterium. So hiess es nun: Velo satteln und Literatur besorgen.

Ausstellung «Film und Foto»

Auch Ernst A. Heiniger war Autodidakt. 1929 machte er sich im Alter von zwanzig Jahren als gelernter Positivretuscheur selbständig. Bereits nach kurzer Zeit beschloss er, sich das Fotografieren selbst anzueignen.

Ebenfalls 1929 fand an der Kunstgewerbeschule in Zürich die Ausstellung «Film und Foto» des deutschen Werkbunds statt. Die internationale Wanderausstellung galt damals als Manifest für eine moderne Bildästhetik. In der Vorschau zur Heiniger-Retrospektive heisst es: «Unter den Schlagworten ‘Neues Sehen’ und ‘Neue Sachlichkeit’ wurden jene avantgardistischen Tendenzen gefasst, die genuin fotografische Gestaltungmittel betonten.»

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Der Bildstreit

Als Folge der Ausstellung «Film und Foto» von 1929 entbrannte ein regelrechter Bildstreit. So ist es in der Publikation «Bilderstreit: Durchbruch der Moderne um 1930» nachzulesen. Auf der einen Seite die Vertreter der Kunstfotografen, auf der anderen die «neuen Fotografen» die dem Schweizer Werkbund nahestanden.

Die Kunstfotografen orientierten sich an der Malerei. Sie bearbeiteten ihre Negative und erstellten in aufwändigen Verfahren Edeldrucke auf speziellen Papieren. Damit verliehen sie ihren Fotografien den Charakter autonomer Kunstwerke. «Die Piktorialisten versuchten den ‘unangenehmen Realismus’ , welcher der Fotografie angeboren war, um jeden Preis zu vermeiden», schreibt Martin Gasser in der Publikation zum Bildstreit. Diese Bilder waren romantisch, gezielt unscharf, impressionistisch.

Die elementaren Mittel der Fotografie

Im Gegensatz dazu wollte sich eine neue Generation von Fotografen nicht mehr an der Kunst des 19. Jahrhunderts orientieren, sondern «an den Gegenständen der Darstellung selbst». Sie konzentrierten sich ganz auf die elementaren Mittel der Fotografie: Licht, Kameras mit scharfzeichnenden Objektiven, Papier.

«Zu den Merkmalen der neuen Ästhetik gehörten Bildschärfe, Detailgenauigkeit, ungewöhnliche Perspektiven wie Auf- und Untersichten, (abstrahierende) Nahaufnahmen oder Mehrfachbelichtungen», heisst es im Begleittext zur Heiniger-Retrospektive. Auch das präzise Erfassen von Strukturen und Formen habe zu den typischen Qualitäten dieser «Neuen Fotografie» gezählt.

Ernst A. Heiniger adaptierte diese Ästhetik der internationalen Avantgarde. Er zählte in der Schweiz zu den Wegbereitern der Neuen Fotografie. Seine Leistungen als Fotograf blieben dem Schweizerischen Werkbund (SWB) nicht verborgen. Dieser machte sich für die Durchsetzung der «neuen Fotografie in der Schweiz» stark und organisierte unter diesem Titel 1932 eine Ausstellung.

Heiniger war mit mehreren Bildern in der Ausstellung vertreten und wurde 1933 als einer der ersten Fotografen im SWB Zürich aufgenommen.

Zusammenarbeit mit Werbegrafik

Willy Rotzler schreibt in «Photographie in der Schweiz: Von 1840 bis heute»: «Die betont formale neue Photographie verband sich vor allem mit der damals aufstrebenden neuen Werbegraphik. In wechselnder Zusammensetzung bildeten sich Teams von Photographen und Graphikern».

In den Sachaufnahmen finden sich gemäss Rotzler «die ungewohnte Sicht der Dinge, die isolierende Konzentration auf das eine, wichtige Objekt.» In den Industrie- und Architekturaufnahmen spielten ungewohnte Sichtweisen und überraschende Perspektiven ebenso eine Rolle, wie die Dynamik des Bildausschnitts. «Es galt auch da, das Altbekannte durch eine neue Sicht ungewohnt und interessant zu machen».

Vieles, was in den dreissiger Jahren angelegt worden war, kam indes erst nach den Kriegsjahren voll zum Tragen, stellt Rotzler fest. Die neue Fotografie wurde zum akzeptierten Zeitstil.

Und in der heutigen Zeit? In der Publikation von 2007 zum Bildstreit hält Martin Gasser fest: «In unserer durch und durch mediatisierten Welt steigt für eine Debatte über unterschiedliche Auffassungen in der Fotografie niemand mehr auf die Barrikaden – alles ist erlaubt, alles ist denkbar, alles ist machbar.»

Fotobücher, Oscars und der erste 360-Grad-Film der Schweiz

Nach seiner Initialzündung um 1930 leistete Ernst A. Heiniger immer wieder Pionierarbeit. 1936 schuf er mit «Puszta-Pferde» eines der ersten modernen Fotobücher der Schweiz. In den 1950er- Jahren bereiste er als Dokumentarfilmer für Walt Disney die Welt – zwei seiner Kurzfilme wurden mit einem Oscar ausgezeichnet. Später drehte er für die Expo 64 in Lausanne den ersten 360-Grad-Film der Schweiz.

1986 verliess er die Schweiz mit dem Vorsatz, nie mehr zurückzukehren und lebte bis zu seinem Tod 1993 in Los Angeles. Die Fotostiftung Schweiz hat sich seither darum bemüht, seinen fotografischen Nachlass in die Schweiz zurückzuholen – was 2014 endlich gelang. Die Aufarbeitung und Erforschung seines Archivs bilden die Grundlage für die erste umfassende Retrospektive.

Die Ausstellung zeigt Sach- und Naturaufnahmen, Fotobücher, Plakate, Filme, Making-of-Bilder sowie Dokumente, die sein Werk in der Zeitgeschichte verorten. Auch sein 360-Grad-Film Rund um Rad und Schiene – die Attraktion der SBB an der Expo 64 in Lausanne – wird als Rundumprojektion reinszeniert.


Begleitend zur Ausstellung erscheint die Publikation Ernst A. Heiniger – Good Morning, World! im Verlag Scheidegger & Spiess. Das Archiv Ernst A. Heiniger, das von der Fotostiftung Schweiz verwaltet wird, wurde umfassend erschlossen und digitalisiert und ist via Online-Datenbank für die Öffentlichkeit zugänglich: fss.e-pics.ethz.ch.

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